Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Bayer – das eigene Bild, Fotografie seit 1870

am 05.5.2002

Als am 1. August 1863 der Kaufmann Friedrich Bayer und der Färbermeister Johann Friedrich Weskott eine Farbstofffabrikation im heutigen Wuppertal Barmen gründeten, war die erste fotografische Aufzeichnung gerade 27 Jahre alt. Die Entwicklung der fotografischen Technik war angekommen bei Nasskollodiumplatten, Glasplatten, die der Fotograf unmittelbar vor der Aufnahme im Dunklen beschichten, noch feucht belichten und direkt nach der Belichtung entwickeln musste. In dieser Technik entstand 1870 das älteste Foto, das sie hier sehen.

Als ich 1969 als Fotograf in die Farbenfabriken Bayer eintrat, waren unsere Arbeitsgeräte -etwa gleich häufig benutzt- Fachkameras mit dem Filmformat 13 x 18 cm und Mittelformatkameras 6 x 6 cm. Fotografiert wurde überwiegend auf S/W Film. Farbe war teuer und Kleinbildkameras galten als unprofessionell.

Heute, im Mai 2002 werden bei uns etwa 95 % aller anfallenden Arbeiten mit Kleinbildsystemen und in Farbe erledigt, mehr als die Hälfte unserer Produktion entsteht ohne Film und Chemie, elektronisch, digital.

Der Vorschlag von Herrn Kerkenrath, die Geschichte von 132 Jahren Industriefotografie bei Bayer in einer Ausstellung zu spiegeln, hat mich spontan begeistert. Dies um so mehr, als ich mit 33 Dienstjahren nun für genau ein Viertel dieses Zeitraums selbst Zeitzeuge bin. Die Ausstellung, die sie heute sehen, ist zusammenstellt aus dem Bildbestand der 3 grössten Archive, die im Unternehmen bei der Unternehmenskommunikation, der Unternehmensgeschichte in den Standortdiensten und der Dynevo geführt werden. Hier sind ca. 2,7 Millionen Fotos gesammelt. Ich musste also schon im Vorfeld eine enge Auswahl treffen. Z.B habe ich die Bildauswahl auf die deutschen Werke reduziert, obwohl das Unternehmen spätestens seit 1876 als „Global Player“ auftrat.

Vor der überwältigenden Menge der Bilder versagten schnell alle an den klassischen Kategorien der Fotografie wie z.B. Portrait, Landschaft, Architektur etc. orientierten Konzepte zur Strukturierung. Diese Kategorien verschwimmen vor einem Bildmaterial, das offensichtlich immer zu klar definierten Zwecken produziert worden ist. Das für einen Fotografen dann am nächsten liegende Hilfsmittel zur Auswahl war die fotografische und ästhetische Qualität.

Was sie heute sehen, ist -um einen Terminus aus der Archäologie zu verwenden- eine Sondierungsgrabung. Sie spiegelt eingestandenermassen auch meine persönliche Auffassung von Fotografie und meine persönlichen Präferenzen wieder. Ich habe in der Vorbereitung geschätzt 25 - 30000 Fotos gesehen. Nachdem ich mich von systematische Erwägungen weitgehend freigemacht hatte, fiel es mir leichter, eine grosse Zahl von Bildern schnell zu übergehen. Trotzdem gab es viele schwierige Entscheidungen, bis ich mit etwas über 100 Fotos der Meinung war, meine Geschichte der Bayer-Fotografie erzählen zu können.

Machen wir uns klar, das jedes dieser Fotos von einem Menschen der jeweiligen Epoche beauftragt wurde, dann von jemand anderem mit den Möglichkeiten und Vorstellungen seiner Zeit realisiert wurde und das natürlich nur die Fotos überlebt haben, die den Absichten und Vorstellungen des Auftraggebers am besten entsprachen, so können wir jedes Bild verstehen als ein Fenster zu dieser Zeit und ihrem Zeitgeist. Sehen sie mir deshalb bitte mangelnde Systematik nach und versuchen sie, einfach der Faszination nachzuspüren, der Magie, die die Fotografie von ihren Anfängen an begleitet. Vielleicht ist es dazu hilfreich, einen kleinen Streifzug durch die Geschichte dieses Mediums zu unternehmen.

Schon ganz am Anfang sind zwei unterschiedliche Ansätze zum Gebrauch der neuen Technik auszumachen: Der erste ist der Wunsch, Malerei und Grafik zu imitieren, Werke zu schaffen, die in der formalen und inhaltlichen Tradition der Zeit stehen und dem Fotografen den Nimbus des Künstlers geben, seinem Publikum Kunstgenuss, wie ihn die bürgerliche Welt dieser Zeit versteht.

Der zweite Ansatz setzt auf das Besondere, das mechanische des fotografischen Prozesses, seine Detailtreue, seine dokumentarische Qualität, aber auch auf spezifische Eigenheiten, die zunächst als Fehler oder Mängel begriffen werden, wie etwa Unschärfen, Überstrahlungen oder eingeschränkte Tonwerte.

Die technischen Möglichkeiten der Fotografie entwickeln sich kontinuierlich. Jede Verbesserung erlaubt dem Fotografen, gestalterisches Neuland zu betreten, sich anders auszudrücken. Dennoch ist die Entwicklung der fotografischen Bildsprache nicht so sehr von der Technik abhängig, als vielmehr vom kulturellen und politischen Umfeld.

Die freie oder künstlerische Fotografie steht in den Jahrzehnten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einem enormen Spannungsfeld. Mit einem Auge schielt sie auf die Entwicklungen im Bereich der bildenden Kunst, möchte sich einfügen in den Wechsel der vielen -ismen dieser Jahre. So finden z.B. Kubismus, Konstruktivismus, Surrealismus oder Dadaismus ihren direkten Niederschlag in fotografischen Arbeiten. Ein eigenständiger und relativ langlebiger Stil ist der Pictorialismus, da er sich auf fotografische Verfahren stützt, bei der Aufnahme z.B. auf Weichzeichnung und bei der Wiedergabe häufig auf Edeldruckverfahren. Dennoch ist der Pictorialismus in Auffassung und Botschaft ein Kind des Jugendstils. Auch dafür finden sich vor allem in der Portraitfotografie Beispiele in unserer Ausstellung.

Auf der anderen Seite gibt es eine starke Strömung, sich von Formalismen zu emanzipieren, die eben nicht genuin fotografisch sind und die eigenen Gestaltungsmittel zu entwickeln. Besonders der aufkommende Fotojournalismus sensibilisiert Fotografen wie Publikum für die medienspezifischen Möglichkeiten. Die Palette der Gestaltungsmittel der Fotografie ist jedoch spätestens 100 Jahre nach ihrer Erfindung, also Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, vollständig entwickelt.

Die Industrie entdeckt sehr früh die Fotografie als ein mächtiges Hilfsmittel zur Selbstdarstellung. Bereits mit den ersten Bildern, die uns erhalten sind, werden die grundlegenden Themen von Industriefotografie festgelegt. Sie sind Ausdruck eines selbstbewussten Unternehmerstolzes, der sagt: Das bin ich, das ist das Gebäude meiner Firma, das sind die Anlagen, mit denen ich produziere, das sind die Menschen, die für mich arbeiten, das stellen wir her und dies sind die guten Werke, die ich tue. Diese sechs Themenkreise werden im Lauf der Geschichte kaum abgewandelt, wohl aber unterschiedlich gewichtet und natürlich überschneiden und durchmischen sie sich.

Die Industriefotografie spiegelt jedoch nicht 1:1 die Geschichte der Fotografie wieder. Sie wird wie jede andere Technologie in der Industrie sehr zweckbestimmt eingesetzt, ihre erste Aufgabe ist damals wie heute Dokumentation.

Die Aufnahme eines Rührkessels aus dem Jahr 1898 unterscheidet sich von der Aufnahme eines Rührkessels aus dem Jahr 2002 durch den Rührkessel, vielleicht durch ihre technische Qualität, aber nicht durch Auffassung und Gestaltung. Sie finden an unseren Wänden eine Reihe von Fotos, die nichts anderes sind als unprätentiöse Zustandsbeschreibungen. Dennoch rühren uns die alten Bilder in einer Art an, die über den bloßen nostalgischen Reiz einer Antiquität etwa hinausgeht. Für uns heute enthalten sie oft ganze Geschichten, wenn wir uns auf sie einlassen, den Details in Technik und Architektur, der Kleidung, der Haltung und den Gesichtern der Menschen nachspüren.

Zweckbestimmter Einsatz von Bildern heisst aber natürlich auch, dem Unternehmen nach aussen wie nach innen ein Image zu geben. Gerade in den Anfängen der Industriekultur wird dieses Image häufig transportiert durch die Portraits der Unternehmensführer selbst. Die Bilder sind oft ganz naiv angereichert mit den Symbolen von Macht und Reichtum. Die Identifikation von Unternehmern mit ihrem Unternehmen war so gross, dass wie selbstverständlich Aufnahmen von Familienfeiern, Kinderportraits und sehr persönliche Bildnisse im Firmenarchiv zu finden sind, wie die Portraits von Johanna Duisberg und Hildegard von Veltheim, die als Geburtstagsgeschenke gedacht waren. Gerade im Bereich der Portraitfotografie finden wir auch schöne Beispiele für den Einfluss der künstlerischen Fotografie der jeweiligen Zeit.

Bereits nach dem ersten Weltkrieg wird der Einfluss journalistischer Bildauffassungen deutlich sichtbar. Die Arbeitswelt und ihre Menschen werden zum Thema, emotionsgeladen dargestellt und in dramatischen Blickwinkeln, wie sie vor allem in der russischen Fotografie entwickelt wurden. Mit der Nazidiktatur steigert sich Bewusstsein für die propagandistische Funktion von Fotos enorm. Das führt zu einer weiteren Dramatisierung der Darstellung industrieller Umwelt: Arbeit wird als Kampf interpretiert, als Heldentum, Idealisierung bis zum Kitsch ist angesagt.

Hitlerdeutschland hat mit einem wesentlichen Teil seiner Kulturträger auch viele Fotografen mir Arbeitsverbot belegt, in die Emigration getrieben oder wie Ernst Salomon oder Yva ermordet. Es war 12 Jahre von der internationalen Weiterentwicklung der Fotografie abgeschnitten. So war nach 1945 zunächst kein Wandel in der Bildsprache zu bemerken. Die Fotografen waren wie die Auftraggeber und Entscheider eben doch weitgehend dieselben geblieben, im Unternehmen wie überall in der jungen Republik.

Erst langsam greifen in den späten 50er und 60er nüchternere Bildauffassungen Platz. Unpathetisch, kühl, sachlich wird der Aufschwung, das Wiedererstarken der Industrie, die rapid wachsende private Motorisierung präsentiert. Die Fotografen holen die neue Sachlichkeit der 20er Jahre nach, das Bauhaus und Albert Renger-Patzsch z.B. stellen die Vorbilder. Eine starke Orientierung auf materielle Werte wird sichtbar. Umweltschutz ist weder im Bewusstsein, noch im Sprachgebrauch, Schornsteine -auch bei Bayer- dürfen noch rauchen.

Das vor allem wird ab den späten 60er Jahren undenkbar, zumindest unpräsentierbar. Die glatten Oberflächen dominieren, pflegeleicht und farbig. Farbe signalisiert ein neues Lebensgefühl nach den harten Jahren des Wiederaufbaus. Mit dem wachsenden Wohlstand fordern die Menschen ein bisschen mehr Luxus, eine auch optisch angenehmere Umwelt. Viele Motive werden nun auch bei uns zugleich schwarzweiß und farbig fotografiert. Die Bildauffassung bleibt jedoch nüchtern und formal. Als eigenständiges Gestaltungsmittel wird Farbe nur im Ausnahmefall verstanden und zugelassen.

In diesen Jahren zwingt das ständig wachsende Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit alle Unternehmen, mehr über sich zu erzählen und von sich zeigen. Die Bilder, die nun entstehen, gehen mehr und mehr auf die journalistische Bildsprache ein, mit der sie im publizistischen Umfeld konkurrieren müssen. Menschen rücken wieder stärker in Mittelpunkt der Darstellung, die Beweglichkeit und Schnelligkeit von Kleinbildkameras wird kreativ genutzt.

Der Einfluss des Bildjournalismus und die Befreiung vom Primat handwerklich-technischer Aspekte der Fotografie bestimmt über die 80er Jahre bis heute den Kurs, den unsere Bildsprache steuert. Um die maritimen Vergleiche weiter zu führen, die spätestens seit Prof. Hansen in diesem Unternehmen Tradition haben: Wir sitzen auf einem grossen und schweren Schiff und reagieren nicht auf jeden Wind, jede Modeströmung im kreativen Umfeld. Unsere Fotografie ist eher nicht avantgardistisch, sie bestätigt und bekräftigt das positive Bild der Welt in den Köpfen der Menschen und sagt: Hallo, wir gehören dazu. Dieses positive Bild der Welt, das offensichtlich langfristig nicht getrübt wird von den Bildern des 11. Septembers, aus Afghanistan oder dem nahen Osten, ist bunter geworden, bewegter, aber damit auch unschärfer. Farbe und damit Emotion verdrängt faktenorientierte Information. Das Weitwinkelobjektiv verschiebt die Perspektive zum Detail, zum Vordergrund, schafft Zusammenhänge, nicht aber unbedingt Perspektiven.

Voraussagen, hat Churchill, dessen Foto sie hier auch sehen, gesagt, sind schwer zu machen, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Ein Blick auf die zeitgenössische Modefotografie, die Werbefotografie und die fotografische Kunst, wo neue Trends am frühesten sichtbar werden, lässt nach meiner Ansicht auf keine radikale Änderung der eben angedeuteten Trends schließen, eher auf eine Neubewertung von Auffassungen der 60er und 70er Jahre. Der Riesenerfolg der William Eggleston Retrospektive in Paris oder der weltweite Erfolg von Becher Schülern wäre ein Hinweis darauf. Freuen wir uns also, dass die Entwicklung des fotografischen Sehens und Interpretierens spannend bleibt.

Mir ist durch dieses Projekt einmal mehr die Wichtigkeit fotografischer Dokumente bewusst geworden für das Verständnis unserer Geschichte und Kultur, als Forschungsmaterial für Historiker und Soziologen. Und ich möchte deutlich darauf hinweisen, das der Erhalt der bestehenden Reichtümer und die Pflege dessen, was Fotografen durch ihre tägliche Arbeit hinzufügen, eine Verpflichtung gegenüber unseren Nachkommen ist. Die Bilder, die wir heute schaffen und bewahren, bilden das optische Gedächtnis zukünftiger Generationen. Je besser eine Gesellschaft ihre Vergangenheit kennt, desto sicherer wird sie ihren Weg in die Zukunft gehen könne. Bill Gates hat bedeutende Archive mit grossen Investitionen gekauft, um sie für die Zukunft zu erhalten und vielleicht ein bisschen Geld damit zu verdienen. Bayer hat solche Archive schon. Und ich bin guter Hoffnung, das auch Bayer die Investition in die Vergangenheit begreift als Investition in die Zukunft.

Nun sind auch von mir ein paar Dankeschöns fällig: Zuerst an sie alle, meine Damen und Herren, für ihre Anwesenheit und ihr Interesse an dieser Ausstellung. Ein Dankeschön geht an die Kulturabteilung für den Anstoss und die Ausrichtung, besonders an Frau Dr. Bott-Tellkampf, ohne deren Hilfe bei Organisation und Hängung ich ziemlich verloren gewesen wäre. Dann natürlich an all die Helfer, die mich in den Archiven an die Hand genommen haben, ohne deren Kenntnisse ich vor der Materialfülle hätte kapitulieren müssen. Ich danke der AGFA, die uns das Material zu Verfügung gestellt hat, auf dem die Bilder vergrößert worden sind. Aus den Beständen des AGFA Fotohistoramas in Köln stammen die Geräte, die sie in unseren Vitrinen sehen werden. Auch dafür vielen Dank. Ich danke der Sander Firmengruppe, die diese Form der Präsentation durch eine überaus großzügige Preisgestaltung erst ermöglicht hat. Ich danke dem Team von Wendel Imaging in Düsseldorf für die engagierte und professionelle Ausführung dieses sicher ungewöhnlichen Auftrags. Mein Dank geht auch an die Firma Lang, die bei der Rahmung und Aufmachung der Exponate wertvolle Hilfe geleistet hat. Ein ganz besonderes Dankeschön geht zum Schluss an all die, die ich jetzt vergessen habe und die auf die eine oder andere Weise ihren Beitrag zu diesem Projekt geleistet haben.

Heinrich Mehring

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